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Funktionsbegriff

Liebe Leute,

In der hier verhandelten Systemtheorie-im-Unterwegs: Bezeichnet „Funktionalismus“ eine Methode oder ein Prinzip? (Hintergrund dieser Frage: Nähe und Distanz zum so genannten Computational Functionalism der Neurowissenschaften, der mir eher metaphysisches Prinzip denn eine „Frage-Methode“ zu bezeichnen scheint) LG

Lieber Franz et al.,

ich würde sagen: Kommt drauf an. Funktionalismus ist nicht gleich Funktionalismus, sondern jede Theorie hat ihren eigenen Funktionalismus. Und ob Funktionalismus „Frage-Methode“ ist, finde ich auch nicht die einzig mögliche Interpretation. Undeutlich ist mir auch, was Du mit „Prinzip“ meinst und gar mit „metaphysischem Prinzip“. Es hängt wohl an den Definitionen, ob Deine Frage verwendbare Antworten erzeugt.

Für die ST-i-U (schöne Metapher!) sehe ich: Sie setzt als Methode den Äquivalenzfunktionalismus ein, inszeniert eine bestimmte Deutbarkeit. Die Deutungslogik sieht m.E. so aus:

  1. Ein Phänomen wird als Lösung eines Problems des Kontextes aufgefasst, dem so genannten Bezugsproblem. Ein Phänomen bezieht sich auf etwas, was außerhalb des Phänomens liegt.
  2. Es werden Alternativen gesucht, die man als Lösungen desselben Bezugsproblems beobachten kann.
  3. Die Lösungen werden miteinander verglichen.

Punkt 1 hat natürlich theoretische Implikationen (metaphysische Prinzipien?), ohne die die Formulierungen der Methode (des Vergleichs) gar nicht möglich sind. Die Theoriefigur ist: ST beobachtet Phänomene nicht „an sich“ oder isoliert, sondern als Antwort auf ein Problem. ST stellt per Beobachtung Relationen und Korrelationen her. Diese „Frage-Methode“ hat, so finde ich, einen prinzipiellen und metaphysischen Unterbau. So spricht die ST von Funktionssystemen, deren metaphysischer Unterbau u.a. „System“ heißt.

In Luhmanns „Wissenschaft der Gesellschaft“ finde ich noch: „Die Regeln richtigen Entscheidens über wissenschaftliche Kommunikation sind entweder theoretischer oder methodischer Art“ (S. 403). Insofern sind Theorien und Methodiken beide Programme des Wissenschaftssystems. Theorien haben die Funktion, Vergleiche zu ermöglichen, indem sie Begriffe und Aussagen zu Rastern kombinieren. Methodik gibt ein Verfahren an, um Empirisches zu beobachten, um auf diese Weise Theorien zu enttautologisieren und sie mit Fremdreferenz auszustatten (S. 408f.). Insofern könnte man sagen, dass Methode und Theorie/Prinzip/Metaphysik zirkulär verkettet sind. Aus meiner Sicht hieße das für Deine Frage bez. der ST: Funktionalismus ist das Prinzip, Äquivalenzfunktionalismus die Methode.

Ob das zum Computational Functionalism passt, kann ich nicht beurteilen, da kenne ich mich nicht aus.

Herzlich

Günther

Franz Hoegl hat auf diesen Beitrag reagiert.
Franz Hoegl

Lieber Günther, danke für die Antwort! Das bringt mich schon weiter. U.a. dadurch, mir die Unterscheidung Theorie/Methode in Erinnerung gerufen zu haben. LG Franz

Den Bezug zum computational functionalism legt die Systemtheorie selbst nahe, indem in ihren Texten prominent die Semantik des Rechnens (vgl. etwa Dirk Baecker, „Rechnen lernen“) gebraucht wird, und mit den deontologisierenden, von spezifischen Realisierungen abstrahierenden Momenten des computational functionalism eine (scheinbare?) Programmverwandschaft aufweist.

Lieber Franz et al.,

da ich an der bisherigen Diskussion nicht teilnehmen konnte, schlage ich vor, einige Zitate zum Thema zu liefern.

„Funktionen können bei jeder Exploration eines Sinnfeldes entdeckt werden (und Wissenschaft kann solches Entdecken systematisieren), wenn man Verweisungen als Probleme faßt, für die mehrere funktional äquivalente Lösungswege offenstehen. Daraus ergibt sich, daß der Funktionsbegriff etwas Allgemeineres bezeichnet als der Strukturbegriff oder der Prozeßbegriff (einschließlich Begriffe für Dinge, Ereignisse, Handlungen). Diese Differenz in Allgemeinheit genau zu verstehen, könnte ein Weg sein, Evolution zu begreifen. Schlüssel hierfür ist der Begriff der funktionalen Äquivalenz, der den Begriff der Funktion geradezu definiert. Der Begriff ist gezielt ambivalent angelegt insofern, als er die Gleichheit von etwas Ungleichem bezeichnet. Verschiedenes ist funktional äquivalent, wenn es dieselbe Funktion erfüllt und insofern als gleich gelten kann. Funktionale Äquivalenz ist mithin weder Gleichheit noch Ungleichheit per se, sondern stellt eine Beziehung zwischen Gleichheit und Ungleichheit dar, die um so ’spannender‘ ist, je größer die Ungleichheiten sind, die im Hinblick auf die Funktion noch als äquivalent betrachtet werden können … und darin besteht ihr Überschuß an Allgemeinheit gegenüber Strukturen und Prozessen, Beziehungen und Elementen von Systemen.“ Luhmann, N., Ideenevolution, Beiträge zur Wissenssoziologie (hrsg. von André Kieserling), Frankfurt a.M. 2008, S.50

„Jeder binäre Schematismus erfordert für seine Anwendung als operative Mindestvoraussetzung Limitationalität. Das heißt: Probleme müssen soweit spezifiziert sein, daß die Eliminierung einer Problemlösung die Wahrscheinlichkeit irgendwelcher anderen erhöht – und nicht schlicht Gleichgültigkeit oder Ratlosigkeit hinterläßt. Ohne diese sozusagen ’stoffliche‘ Vorbedingung begrenzter Möglichkeit werden, genetisch gesehen, überhaupt keine Codes ausgebildet. Das gilt nicht zuletzt auch vom logischen Schematismus der Wahrheit, der eine Ordnung von Arten und Gattungen oder Kontextbedingungen für Dialektik, wie sie mit Begriffen wie Bewußtsein (Hegel) oder Materie (Marx) getarnt worden sind, oder im Falle des Funktionalismus die Systemtheorie voraussetzt.“ Luhmann, N., Schriften zur Kunst und Literatur (hrsg. v. Niels Werber), Frankfurt a.M. 2008, S.22

„Von Differenz ist hier die Rede im Anschluß an den Sinnbegriff. Gemeint ist weder die Differenz von Subjekt und Objekt (geschweige denn ontologische Differenzen wie Sein und Schein), noch die semiotische Differenz von Zeichen und Bezeichnetem. Vielmehr gehe ich davon aus, daß Sinn nur auf Grund einer konstitutiven Differenz erfahren werden kann, die ihrerseits Komplexität abbildet. Es handelt sich um die Differenz eines Überschusses an Möglichkeiten einerseits und der Wirklichkeit eines jeden Sinngebrauchs andererseits – eine Differenz, die ganz ähnlich wie différance bei Jacques Derrida, erst durch die Zeitdimension zur Differenz wird; nämlich dadurch, daß man an jedes Sinnerleben weiteres Erleben oder Handeln anschließen muß. Alles enge Zuschneiden von Differenzen – etwa durch binäre Schematisierung oder durch Problembezug und Konstruktion funktionaler Äquivalente oder auch durch Theoriepolemik – ist eine Operationalisierung dieser Grunddifferenz, die sie immer auch repräsentiert.“ Luhmann, N., Ideenevolution, Beiträge zur Wissenssoziologie (hrsg. von André Kieserling), Frankfurt a.M. 2008, S.239f.

Die Funktion ist „ein Gesichtspunkt der Auswahl und Steigerung, der das Differente als indifferent erscheinen lassen kann und genau dadurch der Differenz Zusatzbedeutungen vermittelt. Sie kann sich, einmal egalisiert, mit Unterschieden wieder anreichern. Die Einheit der Differenz ist nichts weiter als eine Präzisierung der Differenz von Ungleichheit und Gleichheit. Funktionen geben zusätzlich zum allgemeinen Unterscheidenkönnen dieser Differenz Anschlußwert. Darin besteht, wenn man so will, die Funktion der Funktionen. Sie entwickelt Sensibilität für funktional äquivalente Differenzen.“ Luhmann, N., Ideenevolution, Beiträge zur Wissenssoziologie (hrsg. von André Kieserling), Frankfurt a.M. 2008, S.51.

Vgl. zum Äquivalenzfunktionalismus Fuchs, P., Die Theorie der Systemtheorie – erkenntnistheoretisch, in: Jetzkowitz, Jens/Stark, Carsten (Hrsg.), Soziologischer Funktionalismus. Zur Methodologie einer Theorietradition. Opladen, 2003, S.205-218, auch enthalten in ders., Theorie als Lehrgedicht, Systemtheoretische Essays I (hrsg. v. Marie-Christin Fuchs), Bielefeld 2004.

Es ist ganz auffällig, daß Luhmann in dem zitierten Aufsatz (S.184) zwar darauf insistiert, daß das System der Krankenbehandlung ein Funktionssystem sei, aber ungewöhnlich nachlässig mit der Konstruktion des Problems umgeht, als dessen Lösung es erscheint. „Man müßte sagen: niemand könne außerhalb des Systems der Krankenbehandlung gesund werden – es sei denn unbemerkt und von selber.“ (ebenda) Das Verblüffende daran ist, daß niemand in diesem System ist, daß es also fast so aussieht, als hätte Luhmann an dieser Stelle seine eigene Theorie vergessen.
Vgl. Luhmann, N., Der medizinische Code, in ders., Soziologische Aufklärung 5, Konstruktivistische Perspektiven, Opladen 1990, S.183-217

„Strukturalismus und Strukturfunktionalismus lassen sich demnach beide als epistemologische Ontologie bzw. als analytischer Realismus charakterisieren. Der wissenschaftlichen Analyse von Systemen, Texten, Sprachspielen usw. wird Realitätsbezug zugeschrieben, und dieser Realitätsbezug wird durch den Strukturbegriff garantiert. Dadurch, dass die Analyse auf Strukturen stösst, dadurch, dass bestimmte prägnante (zum Beispiel binäre) Konfigurationen erkennbar werden, entsteht Nichtzufälligkeitsbewusstsein, das sich selbst Realitätsbezug bescheinigt. Wenn die Analyse überhaupt Ordnung und nicht Chaos, wenn sie trotz Abstraktion nicht ins Beliebige abrutscht, sondern auf gut strukturierte Sachverhalte stößt, ist das für sie ein Symptom dafür, dass sie es mit Realität zu tun hat. Das Prägnanzerlebnis behebt gewissermaßen die alten erkenntnistheoretischen Zweifel, denen weder die transzendentale Synthese noch die Dialektik hatten beikommen können. Es ist alles viel einfacher, als Kant und Hegel dachten: Wenn die Analyse überhaupt auf Strukturen stösst, kann dies nicht allein ihr selbst zuzuschreiben sein.“ (Luhmann 1984, 379, Hervorhebung im Original)

Herzliche Grüße

Peter

Lieber Peter,

herzlichen Dank für diese vielen Verweise! Sie zeigen: es ist alles viel komplizierter als Franz dachte, besonders in der Oberpfalz (um Luhmann zu paraphrasieren, Soziale Systeme S. 379 weitergelesen…).

LG Franz

Nebenbei: Eine der sehr wenigen Stellen, in denen Luhmann einmal „Sprachspiele“ und also Wittgenstein erwähnt, und diese nicht wie sonst meistens mit dieser Zurückhaltung (die mE der Sorge Ausdruck geschuldet war, in diese hegemoniale 70er/80er-Wittgenstein-Community hineingemeindet zu werden…. Chiffre dafür die Rede von den „Wittgensteinianern“, vgl. etwa in Religion der Gesellschaft), sondern als eine mögliche Hinsicht-auf-… neben anderen.

Lieber Franz, dazu aus dem Luhmann-Lexikon:

„Funktion, Gesichtspunkt ,,für die Beurteilung der Äquivalenz verschiedener Problemlösungen“ (521:120) oder Einheit der Differenz von Problem und funktional äquivalenten Problemlösungen: ,,..die Funktion der Funktion ist es, funktionale Äquivalente zuzulassen.“ (129:1145) Der Begriff F. ersetzt namentlich den Zweckbegriff ([[Zweck]]), da der Bezugspunkt ein kontingentes Problem kontingenter Lösbarkeit ([[Methode, funktionale]]) und weder die Bewirktheit (seinswissenschaftliche Methode) noch die Bewirkung (kausalwissenschaftliche Methode, [[Kausalität]]) von Wirkungen ist. Systeme sind funktional statt zweckspezifisch-zielgerichtet ausdifferenziert und intern differenziert ([[Ausdifferenzierung]], [[Differenzierung]], [[Systemdifferenzierung]]). Systeme erfüllen F.en im Kontext ausdifferenzierter Systeme: z.B. das politische System die Ermöglichung kollektiv bindender Entscheidungen, das Wirtschaftssystem die Minderung von Knappheit durch Steigerung von Knappheit, das Wissenschaftssystem die Erzeugung neuen wahren Wissens, das Rechtssystem die rechtsförmige Bearbeitbarkeit von Konfliktperspektiven das Religionssystem eine Transformation unbestimmter in bestimmte Komplexität, psychische Systeme die dynamische Stabilisierung von Selbst und Fremdzurechnung von Handeln und Erleben, die Familie u.a. die Erziehung usw. Abgesehen von der mit dem letztgenannten Beispiel angesprochenen Systemgruppe steht die jeweils exklusive Erfüllung gesellschaftlicher F.en im Vordergrund; hier werden F.en in dem Sinne universell erfullt, als sie für alle in [[Gesellschaft]] durch Ausschluss eingeschlossenen psychischen Systeme wahrgenommen werden (-> [[Differenzierung, funktionale]], [[Inklusion_Exklusion|Inklusion/Exklusion]]) Es geht jeweils um manifeste und latente F.en, funktionale und dysfunktionale sowie intendierte und nicht intendierte Folgen von Systemoperationen; dabei sind nur die je erstgenannten F.en für Systeme zugängig, die zweitgenannten nicht.“

Würde danach sagen: sowohl Methode als auch Prinzip: Zentrale Methode der Analyse (Problem/(äquivalente) Problemlösung(en), aber auch zentrales Merkmal der Systeme einer funktional differenzierten Gesellschaft und damit auch eine die Beobachtung lenkende Suchmarke und Vorannahme (Jedes stabilisierte System muss eine Funktion [bzw. Leistung] für andere Systeme aufweisen).

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