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Zeitgeschichtliche Diagnostik

Hallo,

ich wundere mich, und deshalb würde ich, wenn ich darf, dies hier gerne einmal zur Diskussion zu stellen wollen, dass die Epochalität und Veränderungsgewalt, welche das Internet mit sich brachte, bringt und wahrschl. noch bringen wird, im allg. öffentl. Diskurs (wie m. E. auch in weiten Teilen des nicht-systemtheoret. soziolog. Diskurses) so wenig grundlegend gesehen und verstanden wird.

Liegt es vllt. daran, dass sich ein System (hier die Weltgesellschaft), welches sich an sich ja nur mithilfe einer Zweit- bzw. nachgelagerten Hilfsunterscheidung selbst beobachten kann, im Wandel gar nicht mehr beobachten kann – also im Prinzip dann höchstens nur noch mithilfe einer Drittunterscheidung?

Es ist ja nun, dies vorausgeschickt, so, dass der Wandel von G3 zu G4 schon vor mehr als 100 Jahren einsetzte, also im Prinzip mit der Einführung der Elektrizität. Nach Radio, Fernsehen etc. erreicht er mit dem Computer, und dann vor allem dem Internet (allg. Computernetzwerk) m. E. nun wahrschl. gerade seine finale Phase.

Dass solche Wandelphasen hin zu einer neuen Primärdifferenzierung der Gesellschaft (wahrschl. Netzwerk, wie D. Baecker meint) lange dauern, wissen wir vom Übergang von G2 zu G3. Vom Buchdruck bis zum Beginn der eigentl. Moderne dauerte es bis zu 300 Jahre. [Und schon wieder 100 Jahre danach setzte G4 an. Irgendwie scheint es über G1 bis G4 betrachtet so zu sein, dass die Zeitlänge des Wandels im Verhältnis zur Zeitlänge der stabilen Phase, die ja expon. immer kürzer wird, hyperexpon. zunimmt.] 

Noch leben wir in G3, d.h. die Funktionssysteme als Primärdifferenzierung sind noch da. Nur sie kommen m. E. zunehmend in Turbulenzen. Seit der Kommerzialisierung der Internettechnologie Mitte der 90er Jahre war das für die Wirtschaft seit den 00er Jahren zu beobachten (mit dem Zshg. zw. F-u-W-Krise 07/08 und Internet habe ich mich lange beschäftigt); für die Politik dann v.a. spätestens seit den 10er Jahren (Stichwort: Populismus); und nun in den 20er Jahren wird m.E. das Rechtssystem zunehmend dran sein und hinzu kommen (erste Anzeichen sind schon sichtbar).

Sollte dies geschehen, könnte es m. E. zu Interdependenzen zw. den jeweiligen Turbulenzen kommen, die sich dann insg. so aufschaukeln können (Stichwort: Dreikörperproblem bzw. Komplexitätskonzept der Physik), dass das ganze System in Getriebenheit versetzt werden, und es früher oder später zu einem Strukturbruch, so wie ihn die Thermodynamik bzw. Synergetik theoret. beschreibt, kommen könnte [die anderen Funktionssysteme, die auch schon länger von mehr oder weniger starken Turbulenzen betroffen sind, jetzt mal aussenvor gelassen].

Ist die Luhmannsche System- bzw. Gesellschaftstheorie, wenn wir sie weiterdenken, verlängern und für die zeitgeschichtliche Diagnostik anwenden, nicht das Beste und Passendste, was wir haben? Viele würden sagen, dass das alles zu allgemein klingt und uns nicht weiterhelfen könne (das habe ich oft gehört, v.a. von Ökonomen). Nur sehe ich keine andere Theorie oder Perspektive, die Krisen unserer Zeit ganzheitlich verstehen (und damit zumindest pfadtechnisch ansatzweise managen zu versuchen) zu können. 

Was mich aber sehr irritiert und umtreibt, ist, dass wir zusätzlich zu diesem epochalen Wandel von G3 zu G4 zusätzlich, parallel, oder damit zusammenhängend (??) gerade auch noch das Problem des Klimawandels haben. Sieht hier jemand einen plausiblen Zusammenhang? Geht die Energieerzeugung, welche das Co2 verursacht, am Ende hauptsächlich oder vermittelt in die elektr. Verbreitungsmedien? Die Statistiken zeigen das nicht. Oder hat es etwas mit der elektromagn. Strahlung zu tun, welche die elektr. VM verursachen/brauchen? Ich glaube nicht, denn jeder Physiker würde darüber den Kopf schütteln. Diesbzgl. bräuchten wir wahrscheinlich wirklich eine Universaltheorie, welche das Konglomerat aus phys., biol., psych. und soz. Systemen ganzheitlich beschreibt.. Oder ist der Klimawandel am Ende doch irgendwie nur jene Drittunterscheidung, von der ich weiter oben sprach, mit welcher der eigentliche Wandel, also jener von G3 zu G4, beobachtet bzw. verarbeitet wird??

Grüße, komol

Lieber Herr Komol,

„ich wundere mich, und deshalb würde ich, wenn ich darf, dies hier gerne einmal zur Diskussion zu stellen wollen, dass die Epochalität und Veränderungsgewalt, welche das Internet mit sich brachte, bringt und wahrschl. noch bringen wird, im allg. öffentl. Diskurs (wie m. E. auch in weiten Teilen des nicht-systemtheoret. soziolog. Diskurses) so wenig grundlegend gesehen und verstanden wird.“

Ich denke, dass ihre These deswegen problematisch ist, weil sie Metaphern des allgemeinen Diskurses ventiliert, nicht die der ‚Systemtheorie‘, die sich als Wissenschaft begreift. In diesem Verständnis wäre das, was sie im Anfang sagen, essayistisch, was ja weiter nicht schlimm ist – aber eben nicht wissenschaftlich.

„ Dass solche Wandelphasen hin zu einer neuen Primärdifferenzierung der Gesellschaft (wahrschl. Netzwerk, wie D. Baecker meint) lange dauern, wissen wir vom Übergang von G2 zu G3. Vom Buchdruck bis zum Beginn der eigentl. Moderne dauerte es bis zu 300 Jahre. [Und schon wieder 100 Jahre danach setzte G4 an. Irgendwie scheint es über G1 bis G4 betrachtet so zu sein, dass die Zeitlänge des Wandels im Verhältnis zur Zeitlänge der stabilen Phase, die ja expon. immer kürzer wird, hyperexpon. zunimmt.“

Nun, ob diese Thesen stimmen, ist für mich fraglich. Die ‚Primärdifferenz‘ der Gesellschaft ist Kommunikation. Dann braucht es keine Primarität, aber auch keine ‚Ganzheitlichkeit‘.

„Was mich aber sehr irritiert und umtreibt, ist, dass wir zusätzlich zu diesem epochalen Wandel von G3 zu G4 zusätzlich, parallel, oder damit zusammenhängend (??) gerade auch noch das Problem des Klimawandels haben.“

Das ‚Wir‘, sie wissen es wahrscheinlich, kann man eigentlich nur Leute nennen.

Herzliche Grüße

Peter Fuchs

Lieber Herr Fuchs,

vielen Dank für ihre Antwort! 

Ich würde, auch wenn es nur den allg. Diskurs und nicht den wissenschaftl. Diskurs betrifft, trotzdem gern noch einmal versuchen nachzufragen.

Kommt man, wenn man wie Luhmann davon ausgeht, dass die Elemente der Gesellschaft nicht Individuen, Subjekte, Personen oder zumindest Handlungen, sondern eben Kommunikationen bzw. Kommunikationsereignisse sind, zu einer tiefergreifenden Beurteilung dessen, was das Internet für die Gesellschaft bedeutet, als alle anderen konventionellen, aber auch die meisten nicht-systemtheoretischen wissenschaftlichen Perspektiven auf Gesellschaft? Denn das Internet betrifft ja nun einmal direkt die Kommunikation. Und es ist als elektr. Vbm dazu m.E. auch noch viel mehr als wie nur Telefon, aber auch Radio, Fernsehen und Computer – es ist wie eine Art vereinigende und emergente Verbindung dieser elektr. Vbm mit Surplus (deshalb auch meine Vermutung bzgl. einer finalen Übergangsphase).

Wenn die Antwort „Ja“ sein sollte, wäre es dann nicht hilfreich, zumindest zu versuchen, diese Sichtweise in den allg. Diskurs einzubringen, um damit die Krisenhaftigkeit der heutigen Zeit besser erklärbar zu machen (i.S. einer soziologischen Aufklärung des allg. Diskurses)? Denn viele nehmen nach meinem Eindruck an, dass die Existenz des Internets (und dies meistens auch noch nur in Hinsicht auf den Teil der sogenannten „sozialen Medien“ bezogen) eine Art Krisentreiber, nicht aber die wesentliche Hauptursache der Krisenhaftigkeit selbst sein könnte. 

Beste Grüße, komol

 

Lieber Herr Komol,

„Denn das Internet betrifft ja nun einmal direkt die Kommunikation. Und es ist als elektr. Vbm dazu m.E. auch noch viel mehr als wie nur Telefon, aber auch Radio, Fernsehen und Computer – es ist wie eine Art vereinigende und emergente Verbindung dieser elektr. Vbm mit Surplus (deshalb auch meine Vermutung bzgl. einer finalen Übergangsphase).“

Ich verstehe nicht, warum Sie das Internet so priorisieren. Wenn man sich unter einer Linde liebt, ist es etwas anderes, ob man dies physisch tut oder im Kreise um eine Linde läuft und unentwegt ins Handy bläst: Ich liebe dich. Aber mitdenkt, dass man Geld benötigt zum Abendessen. Oder hat er genug davon? Auf alle Fälle muss sie am Nachmittag zum Arzt gehen (Rheuma). So etwas nennt man  ‚operative Kopplung‘, wenn der Professor recht hat, der bei Kunst enthusiastisch wird – besonders bei ‚Munch‘ …

Die Gesellschaft nennt man dagegen ‚polykontextural.‘ Sie ist an nichts orientiert.

„Wenn die Antwort „Ja“ sein sollte, wäre es dann nicht hilfreich, zumindest zu versuchen, diese Sichtweise in den allg. Diskurs einzubringen, um damit die Krisenhaftigkeit der heutigen Zeit besser erklärbar zu machen (i.S. einer soziologischen Aufklärung des allg. Diskurses)? Denn viele nehmen nach meinem Eindruck an, dass die Existenz des Internets (und dies meistens auch noch nur in Hinsicht auf den Teil der sogenannten „sozialen Medien“ bezogen) eine Art Krisentreiber, nicht aber die wesentliche Hauptursache der Krisenhaftigkeit selbst sein könnte.“ 

Nun ja, Sie wissen, denke ich, dass für diese Theorie ein allgemeiner Diskurs sehr problematisch ist, die heutige Zeit ebenso wie dessen soziologische Aufklärung. Wahrscheinlich würde ich mich fragen, ob es nicht besser wäre, sich um die binäre Kodierung des ‚Internets‘ zu kümmern. Man hätte dann ein Funktionssystem, wenn nicht, dann nicht.

Beste Grüße zurück

Peter Fuchs

Lieber Herr Fuchs,

vielen Dank für ihre Antwort und ihre Zeit.

Ja, es könnte sein, dass ich das Internet überschätze. So ganz überzeugt davon bin ich zwar noch nicht, aber ich werde mich weiter damit auseinandersetzen..

Beste Grüße, komol

Lieber Peter,

Dein Satz „So etwas nennt man  ‚operative Kopplung‘, wenn der Professor recht hat, der bei Kunst enthusiastisch wird – besonders bei ‚Munch‘ …“ bleibt für mich nahezu vollständig unverständlich. Weder verstehe ich den Bezug des ersten Satzteils: Worauf bezieht sich das „So etwas“? Noch verstehe ich den Sinn der folgenden Satzteile. Ich bin neugierig: Verwendest Du hier eine Art Kode für Kenner, dessen Entzifferung mir schlicht nicht gelingt? Ist die Wahl Deiner – ich würde sagen – verrätselnden Formulierung eine Art Methode und Ausdruck einer speziellen Didaktik? Oder stehe ich schlicht auf dem Schlauch?

Herzliche Grüße

Arne

Lieber Arne et al,

ja, du hast recht. Das war tatsächlich zu komplex. Das erklärt sich damit, dass ich selbst an diesen Problemen arbeite. Zunächst war der erste Teil (das Liebesspiel  … bis zu ‚Munch‘) das Beispiel dafür:

„daß das gesamte kommunikative Geschehen durch eine Beschreibung der beteiligten Mentalzustände beschrieben werden könnte – mit der einzigen Ausnahme der Autopoiesis der Kommunikation selber. Wenn es auf eine Beschreibung momentaner Zustände ankommt, wäre also ein »psychischer Reduktionismus« oder auch ein »methodologischer Individualismus« möglich; nicht aber, wenn die autopoietische Dynamik des Kommunikationssystems miterfaßt und miterklärt werden soll. Eine reduktive Beschreibung müßte die Zeit unberücksichtigt lassen und damit auch die Identität der Elemente.“[1]

Das habe ich mit meinen Beispielen gemeint: Das Lieben, das Zahlen, die Referenz auf Kunst … sind Mentalzustände, die ohne Kommunikation und ihre Autopoiesis nicht fungieren können – et vice versa. Dieses Zitat ist übrigens wundersam.

Herzliche Grüße

Peter

Vllt. als Zusatz noch ein kurzes Zitat Luhmanns zur operativen Kopplung (siehe Luhmann, N., 1995, Das Recht der Gesellschaft, 1. Aufl., S. 440 f.): „Für operative Kopplungen gibt es zwei Varianten. Die eine heißt Autopoiesis. Sie besteht in der Produktion von Operation des Systems durch Operation des Systems. Die andere beruht auf der immer vorauszusetzenden Gleichzeitigkeit von System und Umwelt. Sie erlaubt eine momenthafte Kopplung von Operationen des Systems mit solchen, die das System der Umwelt zurechnet, also zum Beispiel die Möglichkeit, durch eine Zahlung eine Rechtsverbindlichkeit zu erfüllen [..]. Operative Kopplungen zwischen System und Umwelt durch solche Identifikationen sind aber immer nur auf Ereignislänge möglich. Sie halten nicht stand [..], denn im Grunde wird die Identität der Einzelereignisse stets durch das rekursive Netzwerk des Einzelsystems erzeugt [..]. 

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